Weiße-Flaggen-Tag

 

Gestern setzte ich mich auf die Schaukel der Erinnerungen. 

Sie trug mich in die Höhen, die ich vorher selten zu erreichen vermochte. 

 

Die Erbsen im Nachbargarten lachten mich aus, sie wollten Revanche nehmen für die vielen Tage die sie sonst vor meiner Gier zitterten. 

Die Biene, die eine Wespe ist, surrte um meine spitze Nase und stach nicht zu. Sie weiß mittlerweile, dass ich sie nicht fürchte. 

Das macht sie nicht stutzig, sie kennt mich seit langem schon. 

 

Die Wolken flogen vor mir weg, sie waren hell und rund und weich. 

Ich dachte früher, sie seien aus Watte, bis sie mich mit ihren Lachtränen nass spritzten. 

Seither meide ich ihre Nähe und nicke ihnen verhalten zu. 

 

Die Sonne will mich heute nicht wirklich grüßen, sie hält sich bedeckt. 

Schade, eigentlich. 

Ich mag in sie hineinschauen, so, als ob ich durch sie hindurchschauen kann. 

Daß mir das nicht gelingt ist klar. Doch wer tut nicht immer wieder mal so als ob?! 

Ich will ihre grellen Punkte auf meiner Netzhaut spüren und ein paar Augenblicke glauben, ich würde niemals mehr etwas Anderes sehen können, als diese hellen Flecken. 

Wie einfach dann alles wäre. 

 

Im Hintergrund fährt ein Zug nach Norden. 

Er trägt noch die Spuren des Südens auf seinen Fenstern. 

Der Norden wird ihn nicht wollen, der Zug erzählt zuviel von den Steppen in denen die Freiheit wohnt. 

Im Norden herrscht keine Freiheit, er hat keine Steppen. 

Im Süden herrscht Lachen und Hektik. Das mag der Zug nicht. 

Er mag es nicht, sich beeilen zu müssen, den Krach zu ertragen, der ihn erfüllen wird. 

Ich spüre seine Hilflosigkeit, wenn er die Geleise schleift. 

 

Die Apfelbäume auf dem Hügel hinter den Wiesen haben das Blühen aufgegeben. Sie belohnen sich selbst mit kleinen runden Früchten, die später niemand haben will, weil sie zu unbeutend ausschauen. Die Apfelbäume wispern sich ins Fäustchen, vor der Dummheit der Verweigerer. 

 

Die Schaukel schaukelt weiter.

Ich stoße mit dem Kopf gegen den alten Fliederbaum. 

Die Erdbeeren leuchten rot vor Freude; sie mögen mich nicht weil ich sie doch so mag. 

Das ist mir klar und ich lasse sie deshalb genüsslich, zerdrückt an meinem Gaumen, sterben.

Bei den Erdbeeren gewinne ich fast immer, nur die Schnecke macht manchmal vor mir das Rennen. 

Aber auch bei ihr vergeht ihnen am Ende das Lachen. 

Ach, wie liebe ich die verschämten Mirabellen. Sie sind so scheu und ihre roten Bäckchen machen es ihnen nicht leichter, das zu verbergen. 

 

Weiße Flaggen wehen in den Nachbargärten. 

Heute ist Sonntag, der Weiße-Flaggen-Tag. Morgen, Montag, werden es die grauen sein. 

Ich habe meine Flaggen zu Armbändern geflochten, sie sind so schön farbig. So trage ich sämtliche Wochentage um mein Handgelenk. Heute mag ich rot, den Freitag. 

 

Seit ich die Flaggen abgeschafft habe, bin ich unsichtbar. 

Ich besitze keine Zeit mehr. 

Nur die Nächte sind mein. Die Tage lege ich bei Dunkelheit ab. 

Es gibt keine Flaggen in der Nacht. 

Die Nachbarn haben Angst, ich würde sie stehlen und sie danach, geflochten in mein langes Haar, durch die Unzeiten tragen. Sie können sich dann nicht mehr hinter ihren Flaggen verstecken. 

Die Nachbarn hören mein Lachen auf der Schaukel und erstarren.

Sie glauben, ich würde heute Abend vor Sonnenuntergang durch die Zäune schleichen und ihre die weißen Stofffetzen stehlen. 

 

Mein Kopf schmerzt. 

Der Fliederbaum hat sich mir entgegen gereckt, damit ich mich an ihm stoße. Den Gefallen habe ich ihm unbedachterweise getan.

Er ist mir gram, ich habe ihn für die Rosen eintauschen wollen. 

Er wollte sich wehren. Er wollte den Platz vor meiner Schaukel nicht eintauschen. 

Er liebt mich schon so lange. 

Dass er blieb, war dann nicht sein Verdienst. Das beschämt ihn immer noch. 

Denn die Rosen waren viel zu eitel, ihren Sonnen-Platz mit ihm zu tauschen. Es sei denn, sie hätten mich kratzen dürfen. 

Ich habe abgelehnt, denn ich mag nicht gekratzt werden an Beinen, die mir die Freiheit erschaukeln. 

 

Ist es Freiheit? 

 

Mein Kopf schmerzt weiterhin. 

Ich hätte nicht auf die Rosen hören sollen, sondern eigenmächtig ihnen und dem alten Flieder zeigen, dass ich allein die Gartenbestimmerin bin. 

Aber was nützt es, vergangenen Blüten hinterher zu weinen….?! 

 

Das Raunen zwischen meinen Schläfen ist das Meeresrauschen alter Muscheln, die ich vor Ewigkeiten an meine Ohren hielt und die Musik der Wellen nicht vergessen konnten. 

Sie träumen weiterhin von Gezeiten, Salz, Möwen und Wind. 

Wie töricht sie doch sind. 

 

Die Schaukel ist müde. 

Sie hat mich herunter geworfen. 

Ich bin einsam.

Ich hatte doch gehofft, sie würde mich endlich in die Antwort auf alle Fragen tragen.