Mein Wintermeer

 

So viele Töne von Grau – unbegreifliche Vielfalt.

Hohe, wilde Wellen.
Sie zerschlagen an Riffen,
überschäumend,
und tanzen ihre ewigen Schritte,
selten sanft oder gar ruhig:
das Wintermeer der Adria entlang meiner Zugfahrt nach Hause.

Jetzt trennen uns Straßen,
Häuser farbig, quadratisch
mit abgeflachten Dächern.

Bahnhöfe aus früheren Zeiten sind immer noch Halt
für die Züge, die das Land durchqueren.
Die Wartenden auf gepflasterten Bahnsteigen.
Damals war es der helle staubige Kiesel,
der als letzte Erinnerung an den Schuhen weitergetragen wurde.
Im Sommer bedeckte der Staub die nackten Zehen
und ließ die Füße die Augenblicke des Abschieds tragen.

Hügel mit dunklen Baumkronen bilden den langen Horizont.
Davor, auf Feldern und Wegen,
hohe Pinien vor Fetzen blauen Himmels
zwischen grauen Wolken.
Es ist Winter.
Aus kurzen Strahlen stechende Sonne
die auch am Mittag tief steht und doch schon wärmt.
Nur der Wind von Osten, den das Adriatische Meer mit sich trägt,
lässt Pelzkappen wachsen auf den Köpfen der Passanten.

Vertrocknete Maisstauden,
nackte Obstbaumäste,
grüne Wiesen
wie sie es Sommers nie sind
und immer wieder einzelne Gehöfte auf sonst unbebauten Hügeln -
Kilometer um Kilometer sind sie meine Zugbegleiter.

Die Tunnels auf der Strecke nach Hause werden häufiger.
Dazwischen der eine oder andere Bachlauf
gesäumt von braunen Buchenhecken.
Und als unaufhörliche Begleiterin,
weiter hinten am Horizont,
die Hügelkette des Apennin
die vor dem dunkelwolkigen Himmel hervorsticht.

Immer häufiger Häusergruppen entlang der Bahnschienen.
Hochgewachsene Kohlstauden in den Gärten
sind kurzer Anziehungspunkt fürs Auge
beim Vorbeiziehen des Zuges.
Auf der stets gleichen Strecke,
damals, viele Jahre her,
öffnete ich die Zugfenster,
damit mich der Geruch des Meeres empfangen
und noch lange Zeit hindurch begleiteten konnte.
In diesen neuen Zügen ist das nicht mehr möglich.
Nur die Erinnerung daran lässt sich herbeirufen,
doch es ist fraglich, wie zuverlässig sie nach all den Jahren ist.

Der riesige Gummibaum auf dem Bahnsteig von Cattolica
ist dunkelgrün und saftig.
Der damals, zuhause im Norden, hat als kleine Fensterpflanze
längst sein trauriges Dasein aufgegeben.
Was bekommt die Pflanze hier, was ihr in meiner Wohnung anscheinend verwehrt ist?

Farbige Hotelbauten die ihre Namen auf flachen Dächern tragen,
sind nun Blickpunkte an denen ich mich festhalte.
Ich versuche, mir das Meer dahinter vorzustellen.
Die Leere der Urlaubsorte, in denen doch im Sommer
die Straßen, Läden und Restaurants überquellen von Touristen,
ist wie eine vorbeihuschende surreale Kulisse.

Und endlich nur noch leere Strände, kilometerweit.
Keine Menschen, keine Segel, keine Schiffe, keine Liegestühle.
Und dann, am Ende meiner Reise in Fano, empfängt mich endlich mein geliebtes Wintermeer.
Seine Winterwildheit, seine Wintereinsamkeit, seine Winterleere, seine Winterfarben.
Sein nacktes pures Sein.
Die Freiheit.
Ich freue mich.

 

 


Fermignano - (m)ein Zuhause

 

Der heutige Tag trägt den Namen des Ortes meiner Vergangenheit: Fermignano.

 

Er liegt am Fuße von Urbino und beide sind immer eng miteinander verbunden gewesen. Sie streiten sich heute noch darüber, in welchem der beiden Orte denn nun Bramante, ein genialer Renaissance-Architekt, wirklich geboren wurde.

Es ist halb elf Uhr morgens und die Sonne drückt schon unbarmherzig heiß auf die Autoschlange die sich hinter einem Traktor bildet und es geht nur noch im Schritttempo Richtung Tal. Eine gute Gelegenheit die Landschaft um mich herum noch intensiver zu genießen. Die Straßenschilder mit Warnung vor Schnee und Eisglätte sind irritierend in der Sommerhitze. Unvorstellbar, daß es hier einmal schneien könnte. Und doch, ich habe es ja selbst oft genug erlebt.

An der Kreuzung vor der Auffahrt nach Urbino führt der Weg auf die kurvenreiche, enge Straße nach Fermignano, mitten durch die hügeligen Felder der Marken und vorbei an den Hängen mit Trauben und Tomaten. Diese altbekannten Straßen auf denen die Schatten der hohen Bäume die sie säumen tanzen, führen mich weiter hin zum Ziel.

Ich fahre hinein in den Ort als würde ich hineingezogen. Alles bekannt und unbekannt zugleich.

Es sollte ein kurzer Besuch werden, ein Eis oder ein caffè bei Severino, Spaziergang durch die Straßen der Vergangenheit, aufsaugen altbekannter Gerüche und Geräusche.
Wallfahrt, Heimfahrt, beides?

Es ist sehr heiß in Fermignano. Der Markt, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, war nicht mehr da. Aber es ist doch Freitag, Markttag in Fermignano?!

An der kleinen Römerbrücke stoße ich dann auf die ersten Stände.

Der Markt ist größer als früher und auch nicht mehr wie damals in den Gassen des alten kleinen Städtchens in denen mein Zuhause stand und vor dessen Haustür immer die Stände mit Hühnern und Hasen und Kaninchen waren.
Jetzt ist er verteilt auf einige Nebenstraßen am Rande des Ortes und auch entlang der Mauer die seit jeher den Metauro begrenzt. Kleider, Schuhe, Porzellan, Tischdecken, Haushaltswaren, "gläubige" Bücher und Prospekte - aber keinen gegrillten Fisch, so wie gewohnt. Auch keine lebenden Hühner, Küken und Kaninchen; höchstens in Plastik in Stücken. Es war ein Markt wie alle anderen, nicht der aus meiner Erinnerung.
Er ist wie überall - aber billiger.

Ich sehe einige Gesichter die mir bekannt scheinen, Gesichter die meine Erinnerung anstoßen und mich nachdenklich machen weil sie etwas in mir zum Klingen bringen. Vielleicht bin ich an Gesichtern und Menschen vorbeigelaufen weil ich sie nicht erkannt habe. Die Zeit verändert jeden. Und die Erinnerung an ein Gesicht kann trügen. Ich spreche keinen Menschen an, will selbst unerkannt bleiben.
Die Marktleute reden Dialekt mit mir und ich bin erstaunt, daß sie mich nicht als Fremde betrachten, was ich fast lieber hätte. Manchmal werde ich von Passanten angeschaut, irritiert und fragend, zwei bleiben sogar stehen und scheinen auf mich zugehen zu wollen, doch ich gehe einfach weiter. Ich will niemanden treffen, mich niemandem erklären, keine Fragen beantworten.

 

Doch das ist alles nicht so wichtig. Ich spaziere durch die Straßen und setze mich auf "meine" Bank an der Allee unter den Lindenbäumen. Ich habe ein schweres Herz und einen dicken Kloß in der Kehle. Ich denke an die kleine alte Kirche, Santa Veneranda, in die ich vorhin eingetreten war. Ihr Geruch haftet noch in meiner Nase, und er brachte ungewollt viele Erinnerungen zurück.
Obwohl sie vorhin leer war, hörte ich hohe Frauenstimmen Kirchenlieder singen; sah ihre Köpfe, jeden mit einem Schal oder Spitzentuch bedeckt. Ich erblickte mich selbst hinten im Dunkeln in eine Bank gedrückt und fühlte wieder den Unwillen mit dem ich zur Messe ging. Ich spürte die Anwesenheit der vielen Verwandten, besonders die meiner Großmutter, von der ich nie wirklich annahm, daß sie aus christlichem Glauben zur Kirche ging, sondern eher aus Aberglauben.

Vorhin verließ ich bedrückt den kühlen, muffigen und nur mit Erinnerungen gefüllten Raum und trat hinaus in die drückende Mittagshitze. Meine Füße schmerzten und mein Herz auch.
Auf der Bank unter den Bäumen, nicht weit vom Gefallendenkmal, sitze ich nun in ihrem Schatten und mir kommen die Tränen.

Ich weine ganz leise um das verlorene Zuhause das längst anderen gehört und um die verstrichene, unüberlegte Zeit, um mich selbst und insbesondere um die, die nicht mehr da sind und mich dadurch, daß sie mich liebten, die Liebe lehrten.
Ich erkenne, daß ich mich jetzt in Acht nehmen muß um mich nicht ganz und endgültig zu verlieren, bloß weil ich vergessen und vieles nicht wahrhaben wollte. Ich hatte lange Jahre so viel von mir selbst aufgegeben, zog es vor auf andere zu hören, habe meist ihre Interessen wahrgenommen und meine eigenen selten berücksichtigt. Und so ging ich den vermeintlich einfacheren Weg. Nicht anecken nur um wieder geliebt zu werden wie damals, nur um nicht wieder weggeschickt zu werden aus dem Paradies meiner Kindheit und Jugend. Wie damals, viele Jahre hindurch.

Ich wusste lange fast nicht mehr wer ich bin.

Während der vielen Jahre der Trennung mit der italienischen Heimat war ich überzeugt es sei zu kompliziert nach Italien zurückzukommen und auch noch Fermignano, meine Heimat, zu besuchen.
25 Jahre lang habe ich mich selbst davon abgehalten.
Nun sitze ich hier und alles ist so einfach.

"Nicht weil es schwierig ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwierig"


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Noch immer führt die große schöne Allee von Fermignano vom Bahnhof zur Piazza.
Eine Lindenallee mit einzelnen Kastanienbäumen dazwischen.
Der Geruch der Lindenblüten ist berauschend. Vogelzwitschern verstärkt noch das Gefühl der Entspannung und inneren Ruhe die einen beim Spaziergang unter den Bäumen überkommt. Wie reizvoll ist es, sich eine Steinbank unter den Linden auszuwählen, sich hin zu setzen und das 'Dolce far niente' zu genießen.
Aber wer von uns hektischen Zeitgenossen kann das so einfach tun, wer läßt das überhaupt zu?
Ab wann überkommt uns das schlechte Gewissen, weil wir befürchten etwas zu verpassen?
Ist es die Angst, das Leben liefe dann an uns vorbei?
Begreifen wir nicht, daß wir durch die Weigerung zum Innehalten, am Leben vorbeilaufen?

 

 

Es ist fast 15.00 Uhr. Seit einer Stunde ist es ruhig um mich. Wenig Autos, keine Menschen. Siestazeit.

Noch immer sitze ich auf der Bank und lasse Zeit und Raum um mich herum drehen. 

Heute schlich ich durch die Straßen von Fermignano auf der Suche nach der Vergangenheit.

Und auf der Bank unter den Linden schämte ich mich, denn mir war so als würde ich die Vergangenheit stehlen wollen.
Ich kam mir vor wie ein Dieb der verbissen nach dem erträumten Schatz sucht und merken muß, daß es keinen gibt. Der Dieb erschrickt vor sich selbst, vor seiner gierigen Suche. Aber er begreift nicht, dass er kein Dieb zu sein braucht; denn er hatte nie verloren was er so lange glaubte, sich zurückstehlen zu müssen.

 

Ich fahre noch zum Friedhof der sich inmitten brauner Felder draußen vor den Toren von Fermignano immer breiter macht. Ich suche in der drückenden Hitze nach den "Schächten", in denen meine Großmutter und mein Onkel eingeschoben liegen. Dabei begegne ich vielen anderen Verwandten, die mich vom Foto auf ihrem Grab ein letztes Mal anlächeln. Es ist mir nicht möglich, bei der Menge der "Eingeschobenen", Nonna und Zio Mario zu finden. Und ich wußte niemanden den ich fragen kann und will.


Doch der Blick auf die Hügellandschaft um mich herum, entschädigt mich für die vergebliche Suche. Dabei bin ich gar nicht traurig darüber, die Gräber meiner Großmutter und meines Onkels, mit denen ich die Jahre in Italien zusammenlebte, nicht zu finden.
Die Liebe während des Lebens ist um so vieles wichtiger als die nach dem Tod. Die Lebenden zu ehren und respektieren, sie zu lieben, zu schätzen, ist wohl sinnvoller als es erst bei den Toten zu tun.

 

Um zurückzufahren, muss ich noch einmal durch den Ort und mir wird klar, ich werde wiederkommen, mich vor das Haus meiner Kindheit stellen und die grüne Tür anschauen, die meine Kindheit so lange beschützte. Die geschlossenen Fensterläden in der drückenden Sonne haben ihren Lack längst verloren, die Steine sprechen von den Generationen meiner Familie die, so wie ich selbst, einen Teil ihres Seins mit ihnen verband.

Dorthin gehöre ich, dafür schlägt mein Herz - wo immer ich auch leben werde.