Züge

Der Zug ist weg.
Als sei er nie auf diesem Bahnhof angekommen.
Als sei er nie von diesem Bahnhof weggefahren.


Vor mir gähnt er ruhig und leer, der Bahnsteig.
Hätte ich ihm doch hinterherschauen können.
Dem Zug.
Der jetzt weg ist.
Werde ich ihm ab jetzt für immer hinterherzweifeln?


Ich habe noch nie vorher einen Zug verpaßt.
Mir ist auch nicht, als wäre das jetzt der Fall.
Ich bin mir sicher es ist richtig gewesen, 

später als vorgesehen auf dem Bahnsteig anzukommen.
So, als könnte ich dadurch erst wirklich weitergehen.
Als käme ich gerade deswegen endlich voran.
Als hätte kein Zug früher als der danach abfahren können.
Als wäre jeder andere Zug davor zu früh gewesen.

Ich habe das Gefühl, dass dieser Zug, der danach, der richtige ist.
Ich habe nicht das Gefühl als säße ich jetzt im falschen Zug.


Leben ist eigenartig.
Züge die gebucht sind, sind die falschen.
Die falschen Züge sind die wahren.

Ich sollte wieder mehr vertrauen.
Ich sollte wieder dem Leben vertrauen.
Alles schien von Anfang an so gedacht.
Nicht das Falsche ist passiert.
Es ist das Richtige geschehen.
Es ist das Wahre eingetroffen.


Mein Zug fährt jetzt ab.
Ich sitze am Fenster.
Ich werde ankommen.


Stadt der Winde


hier weht der Wind unaufhörlich
mal hart, mal laut,
mal stürmisch, mal säuselnd.
verführerisch weich,
leise, leise,
doch immer da.

er scheint hier zuhause zu sein,
geht hier vor die Tür 
und entscheidet oft,
nicht weiter zu gehen als das Hier weit ist.

 
das Hier ist weit.
und doch eng.
Gassen.
Straßen.
Wege.
Staub.
 
der Staub ist für den Wind gedacht.
er festigt dessen Beweislage und bringt ihm Freude.
ich kann den Wind lachen hören wenn die Staubkörner wirbeln.
windig um die Ecke winden,
das ist sein Pläsir.
 
nichts bleibt grau -
kein Himmel,
keine Nacht,
kein Tag und kein Licht.
auch nicht die kleinen Schluchten.
sie sind braun.
ocker.

die menschen auch.
braun.

dunkel, hell
und dazwischen alle Töne eines unbeschreiblich schönen Brauns.

 

weit,
so weit hinter den Toren, das Land.

sandig.

hügelig.

trocken.

lockend.

verlockend.
 
es ruft.
mich.


bald.
ich habe es versprochen.

der Wind wird mich hintragen.....

 

 Windhuk

 


DIE INSEL - Sie zählt keine Tage

 

Sie zählt keine Tage, die Stunden schon längst nicht mehr.

Sie kam auf die Insel, irgendwann als die kalten Winde im Norden sie wegjagten.

Sie kannte nur den Namen der Insel, sonst nichts.

 

Nun sitzt sie hier unter einer grellen Sonne und hat sich langsam das Denken abgewöhnt.

Anfangs war es schwer. Sie sah alles so genau an, sah so sehr die vielen unstimmigen Details die sie irritierten und ihr fremd waren.

Sie wollte nicht ankommen, sie wollte nicht einmal da sein. Sie wollte weg. Weg sein. Nicht zurück. Nur weg.

Und so hatte sie sich rufen lassen. Von bunten lebendigen Clowns in den dunklen Straßen ihrer kalten Heimatstadt. Sie hatte sie gefragt, wohin sie weiterziehen und sie sagten: auf die Insel. 

Die Gaukler waren längst weitergezogen und sie ließ es nur widerstrebend zu, zurückgelassen zu sein. Dann suchte sie sich eine Insel.

Wegziehen. Weg von dort, wo das Wort zuhause ein angreifbares Gesicht hatte. Ein blasses Gesicht.

Sie wartete auf die Clowns.

Hier. Hierher würden sie kommen. Das spürte sie, schon damals beim Weggehen.

Nun war sie hier, in der Fremde, mitten im Ungewohnten.

 

Langsam begann sie die fremde Sprache zu begreifen, wenn auch nicht unbedingt zu verstehen, diese gutturale Sprache der Bewohner der Insel.

Sie war dem Meer immer nah, egal wo sie auf der Insel war. Es war eben eine sehr kleine Insel.

Hinter ihrem Haus - ein winziger weißer Kubus mit zwei Zimmern, einer Dusche auf dem Dach, einer winzigen Kochstelle im Schuppen, der wie angeklebt aus der Nordwand des Hauses herausragte, waren die Pinien bis an den Zaun herangewachsen.

Nein, falsch gedacht, durchzuckte es sie. Der Zaun musste sich wohl bis zu den Pinien ausgedehnt haben, damals als man ihn festmachte. Die Pinien waren hoch und bestimmt schon alt. Sie boten Schatten.

Dass sie nach Schatten Ausschau hielt, in dieser Jahreszeit, unbegreiflich. Sie hätte es nicht für möglich gehalten. Auch nicht in der Erinnerung an ihre Träume wie aus den Gedanken an die Zeit vor dem Jetzt und Hier.

Eigenartig, das Jetzt ist so präsent ist, schoss es ihr durch den Sinn.

Nie zuvor hatte die Gegenwart eine solch eindrückliche Wirkung für sie gehabt. Sie lebte lieber im Niemandsland zwischen gestern und morgen, erinnerte sie sich.

 

Draußen, gegenüber vom Raum in dem ihr Bett stand, blinkte auf dem Hausdach eine Werbung für Boote.

Zu Beginn, als der Lauf der gezählten Tage noch nicht geendet hatte, machte sie sich neugierig auf den Weg zu dem Bootsverleih. Sie konnte unter der Adresse aus der Werbung nichts mehr finden, schon gar keine Boote. Ein leerer Schuppen gähnte, längst verlassen, vor sich hin.

 

Heute hört den Wind durch den kleinen Wald hinter dem Haus jagen. Es ist stürmisch, doch das Rauschen des Meeres unter ihrem Felsen schweigt. Es ruft auch im Schweigen. Es lädt sie ein.

Nur wenige Meter, ein paar Schritte nach unten, und sie wäre am Strand, ihrem Strand. Er war eng und klein und von Felsen umgeben die ihn zur Einöde machten.

Am Anfang war es so befremdend, ohne weitere Menschen um sich herum im Meer baden zu können. Längst schwamm sie nackt hinaus, soweit sie es wagte. Es ging täglich besser, eine gute Schwimmerin war sie nie. Doch sie spürte, wie sich ihre Muskeln den Bewegungen im Wasser anpassten und geschmeidig wurden.

 

Sie suchte weiter nach einem Boot und fand sie keins. Sie borgte sich, wie schon einige Male zuvor, das Auto des Werkstattinhabers im nächstgelegenen Ort, dort wo sie auch ihre Lebensmittel kaufte. Zwanzig Minuten zu Fuß waren selten eine Qual.

Er gab ihr den alten Wagen gerne, denn sie war freundlich und ihr scheues Lächeln tat ihm gut. Sie verständigten sich mit den Händen und mit Zahlen, die sie auf die Rückseite alter Rechnungen schrieben. Und langsam auch mit Brocken seiner Sprache. Er mußte stets lachen, wenn sie nach Worten suchte und half ihr gerne dabei.

 

Ein paar Minuten Autofahrt, und sie war im Landesinnern, im Inselinnern. Schmale Straßen ohne Wegweiser führten durch die Berge, an Feldern vorbei mit Olivenhainen und Zitronenplantagen. So gelb und groß und dick waren die Früchte. Sie hatte sie auch im Kubus auf der alten Anrichte im Wohnzimmer. Sie wurden schnell faulig. Das war neu. Auch die Tomaten im kühlen Schlafzimmer hielten nicht lange. Diese festen, paradiesisch-süßen Tomaten! Sie biß hinein, der süße Saft lief an den Mundwinkeln entlang den Hals hinunter in ihren Ausschnitt. Dann zerdrückte sie sie hinten im Mund zwischen dem Gaumen und ließ den Restsaft langsam die Kehle runter laufen. Dass das mit Tomaten möglich sei und auch so verlockend schmeckte, das war ganz fremd.

Die dicken aromatischen Zitronenschalen schabte sie in den Zucker, bevor sie den Saft ausdrückte und beides mit  Wasser vermischte. Erinnerungen an die Limonade ihrer Kindheit.

 

Entlang der Landstraße hoch zu den Bergen traf sie endlich auf die Boote.

Sie parkte am Wegrand, ging zu dem schmutzigen, verwaisten Hof.

Nichts rührte sich. Der leise Wind spielte eine kleine Melodie zwischen den zerbrochenen Luken. Viele kleine Boote und drei große; bröckelig ihre Farben, die meisten Fensteröffnungen blind.

Warum stehen auf dieser Insel die Boote und Schiffe auf den Bergen und nicht am Meer. Warteten sie auf die Sintflut? Boote auf dem Berg - archaische Zustände.

Sie standen hier oben auf dem Berg als hätte man sie verbannt. Aus ihrer Heimat verschleppt, dem Meer ausgespannt.

Was hat man ihnen versprochen? Wer hatte sie gerufen?

 

Und nun? Sie streichelte ein kleines Boot, es hatte eine blaue Kajüte und trug noch Spuren roter Farbe.

Sehnsucht überfiel sie, ungehemmt, erschreckend und vor allem unerwartet.

 

Ankommen. Einfach ankommen.

Sie hatte sich wegziehen lassen. Sie war auch auf dem Berg gelandet. Glaubte den flüchtigen Masken der Verzauberung, als sei im fremden Land der Weg nach dem wahren Zuhause einfacher zu finden.

 

Doch wo war das? Zuhause? Auf fremden Inseln, zwischen fruchtbaren Anhöhen, am Rande der Felsen zum Meer, auf den Bergen mit toten Schiffen und dem Ruf der Sehnsucht?

 

Sie würden den Besitzer der Boote finden. Ja. Und dann würde sie weitersehen…..